Alles Erleben ist sinnlos,
insoweit es vergänglich ist und wieder verloren geht,
alle Wahrheit nutzlos,
wenn sie wieder vergessen wird.

Stefan Zweig, Die Tragik der Vergeßlichkeit (1919)

Forum Ethnologie im Nationalsozialismus: woher - wohin?

Cristian Alvarado
 
Das Forum Ethnologie im Nationalsozialismus will dazu beitragen, die ethnologische Praxis im "Dritten Reich" zu beleuchten. Ein "Forum" bedeutet eine öffentliche Diskussion oder einen Versammlungsplatz, es stiftet und symbolisiert öffentliches Leben.

Wir möchten der Erforschung ethnologischer Arbeit und wissenschaftlicher Praxis im "Dritten Reich", damit seiner gesellschaftlichen Praxis allgemein einen solchen diskursiven Versammlungsplatz bieten, um Bewußtsein über dieses Thema, über gesellschaftlich-disziplinäre Kontexte, Personen und Werke zu schaffen und wissenschaftliche Erkenntnisse pluralistisch zu verbreiten. Einsichten in die damalige Wissenschafts- und Gesellschaftspraxis können unseren Blick für heutige Verhältnisse, Möglichkeiten und Zwänge wissenschaftlicher Arbeit schulen. Angeleitet sind wir dabei von der Haltung, dass uns unsere Vergangenheit verpflichtet, an die Opfer zu erinnern - was eben auch bedeutet: jene Praktiken zu untersuchen, die Menschen im "Dritten Reich" zu Opfern sozialer Ausgrenzung machten, bis hin zu ihrer Ermordung.

Wir wollen dazu beitragen, den moralischen Imperativ Wehret den Anfängen wissenschaftlich und zivilgesellschaftlich zu unterstützen. Daher beschränkt sich das aufzubauende Forum thematisch nicht auf die Ethnologie als wissenschaftliche Disziplin oder auf die Zeit von 1933 bis 1945 allein. Beides trüge dazu bei, historische Kontinuitäten vor und nach dem "Dritten Reich" als auch disziplinäre Verflechtungen und Überschneidungen zu übersehen.

Ein Nachdenken und Erforschen der damaligen Praxis findet in unserer gegenwärtigen Gesellschaft statt, deren Haltungen gegenüber der nationalsozialistischen Gesellschaft unser Verständnis unweigerlich beeinflussen. Auch Arbeiten und Informationen zu verschiedenen Formen des Umgangs mit deutscher Vergangenheit werden hier reflektiert sowie inter- oder multidisziplinäre Aspekte der damaligen wissenschaftlichen Praxis. Die mit der Annäherung an die damalige Realität verbundene Selbstreflexion ist zentral.

Das Forum folgt aus dem Seminar "Ethnologie im Nationalsozialismus", welches Cristian Alvarado Leyton am Institut für Ethnologie der Universität Hamburg im Sommersemester 2006 abgehalten hat. Cristian Alvarado und Noreen Dassau leiten es redaktionell und werden dabei von Studierenden unterschiedlicher Disziplinen unterstützt. Wir wollen zur Erforschung des Themas beitragen und sind überzeugt davon, dass das Internet für die erste Orientierung und zur eigenständigen Einarbeitung in dieses Forschungsfeld dienen kann, gerade indem es auf vorliegende Arbeiten zum Thema "Ethnologie im Nationalsozialismus" und auf relevante Werke möglichst umfassend hinweist.

Trotz erster wichtiger Arbeiten seit Mitte der 1980er Jahre sind noch viele Aspekte der Ethnologie - ebenso wie die anderer wissenschaftlicher Disziplinen - im Nationalsozialismus kaum bis gar nicht untersucht. Auch scheint sich die Interpretationsbandbreite erst seit kurzem stärker zu differenzieren. Am gravierendsten macht sich jedoch der Mangel bemerkbar, dass die Erforschung der Ethnologie im Nationalsozialismus häufig ohne Rückbezug auf Praktiken jenseits der Universität im "Dritten Reich" bzw. auf Arbeiten erfolgt, die diese anderen Bereiche nationalsozialistischer Gesellschaft untersuchen und überhaupt den Umgang mit deutscher Vergangenheit thematisieren.

Gerade für EthnologInnen, die fast ausnahmslos die eigene Fachgeschichte untersuchen, ist dies eine merkwürdige Vorgehensweise, sind wir es doch sonst gewohnt, einzelne Praktiken mit Bezug auf das gesamtgesellschaftliche Ganze verstehen zu wollen. Doch auch jenseits der Ethnologie stellt die Erforschung der wissenschaftlichen Praxis allgemein im "Dritten Reich" eines der jüngeren und weiterhin aktuellsten Forschungsfelder dar.

Daher laden wir WissenschaftlerInnen, Studierende und interessiertes Publikum ein, sich am Forum zu beteiligen und das Wissen über die Ethnologie, wissenschaftliche Arbeit und Gesellschaft im "Dritten Reich" zu verbreiten. Dies kann auf vielfältige Weise geschehen: durch Manuskripte zum Themenfeld, die auf der Internetseite erscheinen sollen, durch Hinweise auf relevante Forschungsentwicklungen und Literatur oder durch Kommentare zu den hier publizierten Texten.

Wir wollen mit dem Internetforum einer auf den Elfenbeinturm begrenzten Reichweite wissenschaftlicher Erkenntnisse entgegenarbeiten, um die demokratische Gesellschaft gegen Ungleichheit und Ausgrenzung zu stärken und an die Opfer nationalsozialistischer Gesellschaft mahnend zu erinnern, damit deren Erfahrungen des Grauens nicht vergessen werden.

Hamburg, 12. Dezember 2006

 

Letzte Änderung: 29. März 2020

 

Kontakt: ethno-im-ns [at] uni-hamburg.de

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